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Diese Stellungnahme von Priv.-Doz. Dr. med. Santiago Ewig ist bei der Zeitschrift für medizinische Ethik zum Druck angenommen worden und ist in der 4. Quartalsnummer 2001 erschienen:

Ewig Santiago, Heilungsversprechen versus Menschenwürde: Elemente einer Kritik neuer Technologien: Z Med Ethik 47 (2001) 407-419.

Der Text wurde nach Zustimmung des Verlages hier zugänglich gemacht.



HEILUNGSVERSPRECHEN versus MENSCHENWÜRDE

Elemente einer Kritik neuer Biotechnologien




Santiago Ewig





Anschrift des Verfassers:

Priv.-Doz. Dr.med. Santiago Ewig

Arzt für Innere Medizin

Pneumologie und int. Intensivmedizin

Umweltmedizin

Oberarzt der Medizinischen Poliklinik der Universität Bonn

Wilhelmstraße 35

53111 Bonn

E-Mail: santiago.ewig@meb.uni-bonn.de

Inhalt:

I. Horizont der Fragestellung

II. Biologische Kriterien des Lebensbeginns

III. Ethische Bewertung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen

Abtreibung

Pränataldiagnostik

In vitro Fertilisation (IvF)

IV. Die neue Bioideologie der totalen Gesundheit

V. Der gefährdete Grundkonsens

VI. Ist die humane embryonale Stammzellforschung alternativlos?

Ausblick

I. Horizont der Fragestellung

Die Diskussion um die Forschung an humanen embyronalen Stammzellen hat mittlerweile eine Geschichte. Jeder neue Beitrag steht daher gewollt oder ungewollt in einer Intertextualität, ist Fortschreibung eines vielstimmigen Diskussionsstands. Es ist daher keineswegs trivial, zunächst darauf hinzuweisen, was überhaupt in Frage steht. Vordergründig geht es um eine bestimmte Forschungsstrategie, bei genauer Betrachtung hingegen um den moralischen Status des Embryos. Wird die Reflexion dieser Frage mit der nötigen Konsequenz, also im Zusammenhang mit anderen Entwicklungen auf dem Gebiet der Biotechnologie geführt, stehen letztlich fundamentale Fragen der Menschenwürde zur Disposition, die keineswegs nur den Embryo berühren. Um es noch deutlicher zu sagen: mit der Interpretation der Menschenwürde steht der Grundkonsens der Gesellschaft auf dem Spiel. Zurückzuweisen sind somit alle Versuche, die ethische Bedeutung der humanen Stammzellforschung zu relativieren, etwa, indem mit Hinweis auf »überzählige« Embyronen der verbrauchende Umgang mit diesen verschleiert wird oder indem gar insinuiert wird, die Gewinnung embryonaler Stammzellen erfordere gar nicht die Tötung von Embyronen (»Embryonale Stammzellen sind keine Embryonen«).

Ist über die Bedeutung der Frage Klarheit hergestellt, gilt es zunächst die Ebenen zu differenzieren, auf denen die Fragestellung nach dem ethischen Status des Embyros bearbeitet werden muß. Die erste Ebene ist die naturwissenschaftliche. Die biologische Wissenschaft kann uns darüber Auskunft geben, welches die Prozesse sind, die menschliches Leben entstehen lassen. Die biologische Betrachtungsweise erlaubt jedoch keine Werturteile. Diese müssen in ethischer Reflexion getroffen werden. Der Zeitpunkt der Schützwürdigkeit des Embryos kann also rein biologisch nicht bestimmt werden. Wohl aber wird die ethische Reflexion ein Urteil darüber im Einklang mit den plausibelsten biologischen Kriterien des Lebensbeginns treffen. Die zweite Ebene der ethischen Reflexion hat demnach die Aufgabe zu klären, ob und inwiefern eine Forschung an humanen embryonalen Stammzellen einen Eingriff in die Lebensrechte des Embryos bedeutet und welche Konsequenzen dies für die ethische Bewertung anderer Entwicklungen der Biotechnologie hat. Auf dem Hintergrund der Behauptung besonders hochrangiger Forschungsziele, die die Biotechnologie verfolge, muß neu gefragt werden, was denn eigentlich diese Ziele der medizinischen Wissenschaft sind. Unabweisbar stehen damit konkurrierende Menschenbilder zur Diskussion.

Spätestens hier taucht die beunruhigende Frage auf, ob über Menschenbilder rational gestritten werden kann. Diese Frage ist beunruhigend deswegen, weil sie auf provozierende Weise deutlich macht, daß ein wichtiger Grundkonsens unserer Gesellschaft in Frage stehen könnte, ohne daß ersichtlich wäre, wie dieser wiederhergestellt werden könnte, wenn er erst einmal aufgekündigt worden ist.

Angesichts dieser Perspektive bleibt der Rekurs auf eine dritte Ebene nicht unwichtig: ist die humane embryonale Stammzellforschung nach immanenten Forschungskriterien wirklich »alternativlos«? Da biotechnologische Forschung heute unabweisbar mit ökonomischen Interessen verbunden ist, muß auch die Frage gestellt werden, ob die humane embryonale Stammzellforschung tatsächlich vitale ökonomische Interessen berührt.

II. Biologische Kriterien des Lebensbeginns

Der Beginn des menschlichen Lebens ist ohne Zweifel mit der Vereinigung von Samen- und Einzelle gegeben. Auf welcher biologischen Basis läßt sich jedoch die ethische Festsetzung dieses Zeitpunktes als des Beginns der vollen Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens behaupten? Für eine solche Festsetzung sprechen vier biologische Tatsachen:

1) Identitätsargument: Mit der Vereinigung von Samen- und Eizelle ist die genetische Identität des neu entstandenen menschlichen Lebens festgelegt. Spätere Entwicklungsschritte in der Embyronalentwicklung führen diesbezüglich zu keiner Änderung mehr.

2) Potentialitätsargument: die Potentialität, zu menschlichem Leben zu werden, ist erst nach dem Eindringen der männlichen Samenzelle gegeben, da sich erst dann der mütterliche Chromosomensatz teilt und sich somit entscheidet, welcher der beiden Chromosomensätze weitergegeben wird, welche Identität sich also ausbildet. Dies unterscheidet die befruchtete Einzelle von den Gameten.

3) Kontinuitätsargument: vom Zeitpunkt der Befruchtung an findet eine kontinuierliche Entwicklung des Embryos statt, die nur eine quantitative, keine qualitative Änderung mehr hervorbringt. Zellbiologisch bekannte Mechanismen der Selbsterhaltung (z.B. Reparatur von Längenverlusten der Chromosomen) sind bereits in vollem Umfang gegeben.

4) Speciesargument: die Sonderstellung der menschlichen befruchteten Einzelle liegt darin, daß sie eben zu spezifisch menschlichem Leben führt.

Diese vier Argumente hat J.Wisser wie folgt zusammengefaßt: »Menschliches Leben, dem Würde und Schutzwürdigkeit zusteht, ist dann gegeben, wenn eine menschliche Zelle mit ihrem individuellen Chromosomensatz (Identität) das Potential einer kontinuierlichen Entwicklung in sich vereint.«1

Gegen diese Definition wird gerne der Einwand erhoben, die Natur sei verschwenderisch mit ihrer Potentialität: nur ein kleiner Teil der befruchteten Eizellen käme überhaupt zur Nidation, es käme zu Aborten, Fehlgeburten usw. Diese Argumentation verkennt, daß für den Wert einer befruchteten Eizelle nicht entscheidend ist, was letztlich aus ihr entsteht, sondern vielmehr, wozu sie angelegt ist, und daß das Ausmaß der Verwirklichung nicht vorentschieden ist.

Gegen die Schutzwürdigkeit vom Zeitpunkt der Befruchtung der Eizelle an sind verschiedenste andere Zeitpunkte genannt worden: die erste Woche, der Zeitpunkt der Nidation, die ersten vierzehn Tage, die ersten drei Monate, die Zeit bis zur Geburt. Aber auch bestimmte Qualitäten werden angeführt, die gegeben sein müssen, um das Kriterium des in vollem Umfang schutzwürdigen menschlichen Lebens zu erfüllen: das Vorhandensein einer Mutter, die Erfüllung bestimmter Kriterien wie Bewußtsein, unterstelltes Lebensinteresse usw. Welche biologischen Kriterien können diese Zeitpunkte untermauern? Allein die Vielzahl der Vorschläge offenbart ihre Willkürlichkeit. Offensichtlich handelt es sich hier um Kriterien, die sich in viel geringerem Maße auf eine biologische Plausibilität beziehen, sondern den Beginn des Lebens abhängig von wissenschaftlich-therapeutischen Interessen definieren und damit aufgrund von Werturteilen. Vermutlich ruht die Plausibilität einiger dieser Kriterien im wesentlichen auf dem Gefühl, daß ein »Zellhaufen« offensichtlich kein Embyro, geschweige denn ein Mensch sein könne. Dieses Urteil ist jedoch in mehrfacher Hinsicht unhaltbar: in naivster Weise wird der Augenschein für das Wesen einer Sache genommen, und in unzulässiger Weise wird aus einer empirischen Beobachtung ein Werturteil abgeleitet und somit einem naturalistischen Fehlschluß aufgesessen.

Wer das Kontinuum in der Entstehung des menschlichen Lebens in ein abgestuftes Konzept seiner Schutzwürdigkeit einfügen möchte, übernimmt die Beweislast, auch biologische Belege dafür vorzubringen, warum menschliches Leben erst ab einem bestimmten Zeitpunkt schutzwürdig sein soll.2 Diese Belege sind jedoch nicht zu erbringen. Unter der Voraussetzung, daß der naturalistische Fehlschluß vermieden wird, ist gegenüber der obigen biologischen Definition des Beginns des menschlichen Lebens keine Alternative erkennbar. Die Befürworter eines abgestuften Schutzkonzepts haben daher keine fundierte Basis in biologischen Kategorien aufzuweisen. Daher verlagert sich die Diskussion auch ganz überwiegend auf die ethische Ebene der Werturteile. Es wird nicht mehr die Frage gestellt: was ist menschliches Leben, sondern vielmehr: welches Leben ist lebenswert, welches Leben darf für welche Interessen geopfert werden?

III. Ethische Bewertung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen

Die Befürworter eines abgestuften Schutzkonzepts der Menschenwürde müssen Entwicklungsstufen des menschlichen Lebens behaupten, denen der volle Wert und somit die volle Schutzwürdigkeit noch nicht zukommt. Dies ist nur auf der Basis von Wertungen über das organische Leben möglich, das in irgendeiner Form noch keine ausreichende Potentialität oder Realisierung seelischen Lebens errreicht hat. Hier bricht demnach ein Leib-Seele Dualismus in cartesanischer Tradition auf. In der Regel sind es die Voraussetzungen der individuellen Autonomie oder diese selbst, die als entscheidendes Kriterium des Menschlichen herausgestellt werden. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, daß diese Definitionen des Menschlichen zwingend auch entsprechende Wertungen des geborenen Lebens einschließt.

Diesen Konzepten muß die grundlegende Einsicht entgegengehalten werden, daß der Begriff der Würde, die jedem Menschen zukommt, keinen Prädikat-, sondern einen Subjektausdruck beinhaltet. Der Mensch hat nicht die Eigenschaft einer Person, sondern er ist Person. Jede Uminterpretation des Personenbegriffs bzw. des Begriffs der Menschenwürde in einen Prädikatausdruck durch eine Kriteriologie, die beschreibt, was den Menschen ausmacht, bedeutet die Aufgabe des Prinzips der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens.3 In diesem Sinne garantiert das Grundgesetz in Artikel 1 die Menschenwürde. Diese ist unantastbar. In Artikel 2 wird das Recht auf Leben und seinen Schutz garantiert und somit Artikel 1 konkretisiert. Nach Justizminsterin Däubler-Gmelin, die in diesem Punkt einer traditionellen Auslegung folgt, haben beide Artikel "dieselbe Reichweite" (FAZ, 22.5.2001, S.52)4. Daher ist es nicht möglich, über Artikel 2 eine Einschränkung des Lebensrechts im Hinblick auf übergeordnete Zwecke zu konstruieren.

Demnach genießt der Embryo uneingeschränkte Menschenwürde. Eine Verfügbarmachung des Embryos als Forschungsobjekt kann nicht in Frage kommen. Wenn aber ein Ziel nur durch unethische Mittel zu erreichen ist, darf es nicht angestrebt werden.

Nun wird in der Diskussion um die Berechtigung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen, die häufig von Naturwissenschaftlern und nicht von Philosophen geführt wird, das Konzept der abgestuften Schutzwürdigkeit in seiner pragmatischsten Form ins Feld geführt. Bevorzugt werden für die Schutzwürdigkeit des Embryos Grenzen von einigen Tagen genannt, da diese den Vorzug haben, daß sie 1) die Schwierigkeiten in der Begründung anderer substantieller Kriterien vermeiden und 2) implizit eine Limitation der Legitimität des Zugriffs auf Embyronen suggerieren. Es ist jedoch sehr deutlich, daß es sich nicht um normativ gut begründete Grenzen handelt, sondern um willkürlich gesetzte und vage strategische Marken, die je nach Opportunität auch verschoben werden können. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, daß die Menschenrechtskonvention des Europarats keine zeitliche Grenze mehr für Forschungen an Embryonen nennt5; solche Grenzen würden die Keimbahntherapie substantiell behindern.

Die Schwäche dieser Argumente wird dadurch überspielt, daß die Dringlichkeit der Wahrnehmung von Heilungschancen angesichts des großen Leids der unheilbar Kranken betont wird. Gegner der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen kommen so leicht in den Geruch der Unbarmherzigkeit. Gesinnungsethik wird gegen Heilungsethik ausgespielt.

Selbstverständlich kennen alle Ärzte die Dringlichkeit des Leidens. Daher strebt die medizinische Forschung auch nach kurativer oder zumindest palliativer Therapie. Dennoch muß daran festgehalten werden, daß es keine spezifische Ethik des Heilens gibt, sondern nur ethische Grundsätze des medizinischen Verhaltens und der Forschung, denen sich auch der Heilungswille uneingeschränkt zu unterstellen hat. Kein noch so guter Zweck rechtfertigt die Opferung von Personen. Diese Einsicht ist im übrigen auch der Kern des Ertrags der Diskussion um den Mißbrauch der medizinischen Forschung im Nationalsozialismus.6

Für praktizierende Ärzte, aber auch für die Pfleger, für Therapeuten und Seelsorger, die die Kranken und Sterbenden tatsächlich sehen und begleiten, ist es zuweilen schwer erträglich, daß Grundlagenforscher das Leidenskapital der Betroffenen Kranken und Sterbenden einseitig für sich in Anspruch nehmen und gegen diejenigen ausspielen, die ihnen tatsächlich und nicht selten unter Einsatz ihrer eigenen seelischen Substanz beistehen. Es ist eine unbedingte Forderung an die Menschlichkeit, daß das Leiden der Betroffenen unverfügbar bleiben muß. Ein integres wissenschaftliches Ethos weiß darum und bewahrt sich eine Haltung der Demut gegenüber den Leidenden.

In diesem Zusammenhang erscheint es ethisch bedenklich, in einem so unabsehbaren Stadium der Forschung bereits Heilungsversprechen auszusprechen und somit bei Betroffenen Hoffnungen zu wecken, für die die Grundlagenforscher gar nicht aufrichtig einstehen können. Ganz und gar unverantwortlich ist die Praxis, Betroffene mit Heilungsaussichten aktiv zu mobilisieren und im Sinne von »pressure groups« politisch zu instrumentalisieren. Diese letztere Praxis war in Großbritannien Grundlage für die äußerst bedenklichen gesetzgeberischen Entscheidungen auf dem Gebiet der Biotechnologie (humane Stammzellforschung sowie therapeutisches Klonen)7 und ist jüngst wieder in den USA im Zusammenhang mit der Entscheidung des Präsidenten über die öffentliche Vergabe von Fördermitteln an Projekte der humanen embryonalen Stammzellforschung zu beobachten.

Im übrigen bestehen offenbar zwischen verschiedenen Ländern erhebliche Unterschiede hinsichtlich der grundlegenden Intuitionen einiger Betroffenen-Gruppen. Während viele dieser Gruppen in den angelsächischen Ländern mit allem Nachdruck die Nutzung der humanen embryonalen Stammzellforschung und des therapeutischen Klonens mit der Hoffnung auf eine Heilung einfordern, zeigen sich die entsprechenden Gruppen in unserem Lande eher zurückhaltend und gegenüber Heilsversprechen mißtrauisch. Offenbar empfinden letztere die Heilsversprechen eher als Bedrohung denn als Hilfe. Die skeptischen Stimmen unter den Betroffenen beweisen jedenfalls ein feines Gespür für die tiefe Ambivalenz der Heilungsversprechen, den möglichen Umschlag von der Überwindung des Leids in die Überwindung der Leidenden. Sie empfinden, daß Heilungsversprechen etwas qualitativ anderes sind als Aussichten auf Erweiterungen und Verbesserungen der therapeutischen Möglichkeiten, nämlich potentiell aggressive Utopien.

>Wie aber steht es mit dem Schutz des Embryos in unserer Gesellschaft? Befürworter der Forschung mit humanen embryonalen Stamzellen haben mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß ein solcher Schutz tatsächlich gar nicht mehr Realität ist. Gegenteilige Verlautbarungen des Bundesverfassungsgerichts werden als Lippenbekenntnisse abgetan. Zunächst muß darauf hingewiesen werden, daß der Hinweis auf eine gesellschaftliche Praxis prinzipiell kein ethisches Argument ist. Es ist vielmehr umgekehrt so, daß die Diskussion um die humane embryonale Stammzellforschung die bisherige gesellschaftliche Praxis auf dem Gebiet des Abtreibungsrechts und der Reproduktionsmedizin ethisch in ein neues Licht gerückt hat, und zwar in dem Sinne, daß kritische Anfragen an die bisherige Praxis zu stellen sind. Dennoch müssen hier notwendige Unterscheidungen getroffen werden.

Abtreibung

Das Abtreibungsrecht hat einen unabweisbaren Konflikt zu regeln, nämlich den zwischen der Selbstbestimmung der Mutter und dem Lebensrecht des Kindes. Das Verfassungsgericht hat keinen Zweifel daran gelassen, daß Abtreibung Unrecht ist. Es ist aber der Überzeugung der Mehrheit des Bundestages gefolgt, daß das Strafrecht nicht geeignet ist, das Leben des Kindes gegen den Willen der Mutter durchzusetzen. Insofern ist Abtreibung rechtswidrig, aber (nach einer stattgehabten Pflichtberatung) straffrei.

Dieser Auffassung mag man aus mancherlei Gründen nicht folgen.8 Unabhängig davon folgt aber aus der aktuellen Rechtssprechung jedenfalls nicht, daß die Unverfügbarkeit der Menschenwürde des Embryos aufgegeben wurde. Es ist demnach abwegig, die humane embryonale Stamzellforschung mit dem Hinweis zu rechtfertigen, mit dem Abtreibungsrecht sei die allgemeine Akzeptanz der Gesellschaft eines minderen Status des Embryos bereits vollzogen worden.

Pränataldiagnostik

Die Pränataldiagnostik kann zwei Ziele verfolgen: 1) die Diagnostik zum Zweck der Therapie (z.B. Herzfehler); 2) die Diagnostik zum Zweck der Abtreibung im Falle eines nicht therapierbaren Defekts. Während ersteres ethisch unproblematisch bzw. begrüßenswert ist, fällt der zweite Punkt in den Bereich der Güterabwägung von seelischer Gesundheit der Mutter und Lebensrecht des Kindes. Nach aktueller Rechtsprechung ist eine Abtreibung im Falle einer pränatal diagnostizierten Kindsschädigung im Sinne eines Notwehrrechts straffrei möglich, wenn mit psychischen oder physischen Schäden der Mutter zu rechnen ist.

Dennoch wird man in der Tat darüber nachdenken müssen, ob nicht mit der aktuellen Praxis der Pränataldiagnostik ein Automatismus gefördert wird, der beinhaltet, daß behinderte Kinder abgetrieben gehören, eine Tendenz, die durch die Präimplantationsdiagnostik noch einmal deutlich befördert würde.

In vitro Fertilisation (IvF)

Die IvF berührt in der Tat die Personenwürde des Embryos, da diese Technik zu »überzähligen« Embryonen führt, die ihren Status als Person de facto verlieren, da sie - in welcher Form auch immer - der programmierten Vernichtung anheimfallen. Die katholische Position hat diese daher stets abgelehnt. Die Diskussion um die humane embryonale Stamzellforschung muß zu einer erneuten Prüfung der ethischen Beurteilung dieser Technik führen, an deren Ende nur ihre umfassende Neubewertung stehen kann.

Auf keinen Fall kann die IvF als Faktum dienen, das die humane embryonale Stammzellforschung begründet. Man kann nicht eine Fehlentwicklung mit dem Hinweis auf eine andere begründen. Auch die Auffassung, die humane embryonale Stammzellforschung könne an diesen Embryonen durchgeführt werden, da sie ohnehin entstünden, insofern nicht unter die ethische Reflexion fielen, ist unschlüssig, da sie einen Zirkelschluß darstellt. Denn ob man Menschen zum Zwecke ihrer Verwendung für andere Zwecke erzeugen darf, soll gerade durch Reflexion auf den Status des Embryos erst beurteilt werden.

IV. Die neue Bioideologie der totalen Gesundheit

Die Diskussion um die humane embryonale Stammzellforschung ist Teil einer Thematik, die auch allgemein gesehen und kritisch beleuchtet werden muß. Dies wird bereits dadurch deutlich, daß hier die Behauptung von »hochrangigen« therapeutischen Zielen aufgestellt wird, die es gegen das Lebensrecht des Embryos abzuwägen gälte. Die zentrale Frage lautet demnach: welches Ziel soll die medizinische Forschung leiten?

Viele Forscher werden bereits die Frage nach dem Ziel als überflüssig ablehnen, da die Forschung keinem setzbaren Ziel folge, vielmehr natürwüchsig auf dem jeweiligen Stand der gegenwärtigen Technik fortschreite. Mit dieser Aussage kann man im Regelfall auch dann gut leben, wenn man der Meinung zuneigt, daß die medizinische Forschung sehr wohl benennbare, wenn auch nicht immer im Forschungsprozeß bewußte Ziele kennt. Die Sachlage ändert sich aber dann grundlegend, wenn der Rahmen anerkannter ethischer Grenzen verlassen wird, wenn also von Seite bestimmter Forscher zur Rechtfertigung konkreter, ethisch bedenklicher Forschungsstrategien medizinische Ziele, ja Utopien genannt werden.

Diese lauten im Zusammenhang mit der humanen embryonalen Stammzellforschung z.B. »Heilung von schweren Erbkrankheiten« bzw. »Heilung von bisher unheilbaren Krankheiten«. Die utopische Verheißung ist unverkennbar. Man geht gewiß nicht zu weit, wenn man in der Verheißung der »Heilung des Unheilbaren« parareligiöse Konnotationen zu vernehmen meint. Hier wirkt nichts Geringeres als die Verheißung von der Befreiung der menschlichen Konstitution von ihrer Hinfälligkeit.

Was kann die medizinische Forschung leisten, was sollen ihre Ziele sein? Als Pneumologe lese ich in der international führenden Fachzeitschrift der Pneumologie als Ziel der »American Thoracic Society«: »A world free of lung disease«. Ernst Bloch hat allgemeiner 1959 geschrieben: »Dieser endgültige Plan, der letzte medizinische Wunschtraum, ist nichts Geringeres als die Abschaffung des Todes.«9 Man gewinnt den Eindruck, daß nicht wenigen Bioforschern im Zusammenhang mit dem Human genome project nicht nur ähnliche Wunschträume vorschweben, sondern daß sie diese in erreichbare Nähe gerückt sehen. Die Verheißungen der Stammzellforschung müssen im Zusammenhang mit diesen biologischen Utopien gesehen werden.

Sind dies jedoch adäquate medizinische Utopien? Es ist schon heute für jede praktisch tätige Ärztin und jeden praktisch tätigen Arzt eine erfahrene Realität, daß die Erfolge der medizinischen Wissenschaft, die auf der einen Seite eine verlängerte Lebenserwartung bereiten, auf der anderen Seite mit zunehmendem körperlichen und seelischen Leid in höherem Alter bezahlt werden müssen. Die besondere Dialektik der genetischen Forschung und Medizin wird vermutlich eine unerwartete sein. Indem durch genetische Forschung die Transparenz des menschlichen Genoms immer größer werden wird, wird es zunächst nicht zu einer zunehmenden Gesundheit des Menschen, sondern zu seiner zunehmenden Pathologisierung kommen. Es wird deutlich werden, daß die phänotypische Gesundheit ein ganz unwahrscheinlicher Ausnahmefall in einem Meer an genetischen Potentialitäten zur Krankheit ist. Es wird sich durch höchste Technologie der Satz bewahrheiten, den ein religiöses Genie so ausgedrückt hat: »Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen«. Der Versuch, dem Tod zu entgehen, indem man dem Leben in die Karten schaut, wird nur die Einsicht ergeben, daß das Leben inmitten des Todes und nicht ohne ihn ist. So führt also modernste Forschung zu denselben grundlegenden Einsichten in die Natur des Lebens, die die Religion immer schon gewußt hat.

Ein neues Nachdenken über die Ziele der medizinischen Forschung ist dringend erforderlich. In letzter Konsequnz muß es verbunden werden mit einem neuen Nachdenken über die Ziele der technologischen Innovation überhaupt. Grundlegend in dieser neuen Diskussion muß die Einsicht sein, daß jedes Konzept, das ernsthaft eine umfassende Beseitigung menschlichen Leids für das höchste Ziel erklärt, notwendig mit aggressiven Konsequenzen für diejenigen verbunden ist, die diesem Ziel nicht genügen können. Diese Erfahrung werden dann nicht nur chronisch Kranke und Behinderte machen, sondern jeder einzelne Mensch, der ein höheres Alter mit seiner konstitutiven Hinfälligkeit erreicht. Schon jetzt zeigen sich mitten in Europa in der Euthanasie-Frage Erosionen des Tötungstabus älterer und schwerkranker Menschen. Umgekehrt wird nur eine solche Gesellschaft noch ihre Kranken pflegen und ihre Sterbenden begleiten, die weiterhin das Leid als eine Grundkonstitution menschlichen Lebens anerkennt und insofern die an keine Voraussetzungen gebundene Menschenwürde über jegliche Heilsversprechen stellt, die diese Menschenwürde aufkündigen.

V. Der gefährdete Grundkonsens

Der moderne säkuläre Rechtsstaat ist im Kern eine Einigung auf formale rechtsförmige Entscheidungsprozeduren in Konfliktfragen auf dem Boden eines nicht in Frage stehenden Grundkonsenses. Dieser Grundkonsens ist weltanschaulich in gewissen Grenzen neutral gehalten und enthebt konkurrierende Glaubensorientierungen davor, sich stets neu gegeneinander zu positionieren.

Die Tatsache, daß dieser Grundkonsens besteht und welchen Inhalt dieser hat, ist alles andere als selbstverständlich. Die Entstehungsgeschichte des Grundkonsenses ist komplex. Im Hintergrund stehen jedoch furchtbare historische Erfahrungen, ursprünglich die Erfahrungen der Religionskriege, in neuerer Zeit der Diktatur. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist in besonderem Maße gekennzeichnet durch die Erfahrung der Außerkraftsetzung der Menschenwürde im Nationalsozialismus. Diese Erfahrung war für die Väter des Grundgesetzes offenbar noch so gegenwärtig, daß die Inhalte des Begriffs der Menschenwürde nicht strittig waren. Heute erfahren wir einen grundlegenden Wandel in der juristischen Auslegung dieser Artikel 1 und 2 GG. Der Begriff der Menschenwürde besagt immer weniger, daß diese Würde voraussetzungslos gilt. Zunehmend wird er verstanden als ein Recht, das aufgrund von bestimmten Qualitäten zugesprochen wird.

Wenn aber der Begriff der Menschenwürde fraglich wird, dann ist der Grundkonsens fraglich geworden. Ist aber der Grundkonsens fraglich, droht eine Erosion der Zustimmung zum demokratischen Gemeinwesen. In den Worten Carl Schmitts zeichnet sich hier nicht weniger ab als die Repolitisierung neutralisierter Sachverhalte.10 Neutralisiert wurde im modernen Staat zunächst die Konfessionsfrage, weil es trotz hoher Opfer keinen Sieger geben konnte. Als nächstes folgte die Neutralisierung der Religion überhaupt, weil die christliche Religion nicht mehr allgemein anerkannt war. Durch diese Neutralisierungen wurde der moderne Staat befähigt, seinen Grund auf den Menschenrechten bzw. der Menschenwürde zu bauen, einer allgemein zustimungsfähigen Grundlage, auf der unterhalb dieser Grundsatzentscheidungen auftretende Interessenskonflikte friedlich auf rechtsförmigem Wege ausgetragen werden konnten. Im Zuge dieser Entwicklungen ist jedoch vielleicht lange nicht ausreichend wahrgenommen worden, wie sehr der Begriff der Menschenwürde von bestimmten Voraussetzungen abhängig ist, die sich offenbar verbrauchen können, wenn ihre geistigen Grundlagen verkümmern. Diese Grundlagen sind ohne Zweifel religiöser und - was unsere westlichen Demokratien angeht - in sehr weitreichendem Maße jüdisch-christlicher Natur. Es wird zunehmend deutlich, daß ein Zusammenhang zwischen der Anfechtung der traditionellen Zivilreligion, wie sie sich im Begriff der Menschenwürde reflektiert, mit der Auszehrung des gelebten christlichen Glaubens in den westlichen Gesellschaften besteht.

Wenn nun im Zuge der biotechnologischen, aber natürlich auch anderer Entwicklungen die Grundlagen der Menschenwürde nicht mehr einheitlich interpretiert werden, kann entweder die bisherige Interpretation mehr oder weniger widerstandslos verkümmern, oder, in Abhängigkeit von der Vitalität oder Revitalisierung der religiös oder transzendental inspirierten Kräfte, es kommt zu einem politischen Konflikt um diese. Ein solcher Konflikt aber könnte die Zeichen des Politischen im Sinne Carl Schmitts tragen: Freund und Feind könnten sich gegenüberstehen, »Leben gegen Leben«, d.h. letztlich einander ausschließende, nicht kompromiß- und verhandlungsfähige Grundpositionen.

Wenn man die Möglichkeit eines solchen Szenarios ernst nimmt, sind die schon heute häufig zu hörenden Vorwürfe des »Fundamentalismus« an die Adresse jeder Position, die religiös oder transzendental inspiriert argumentiert, Grund zur Sorge. Durch diese Bezeichnung werden bereits Ausgrenzungen vorgenommen, die die Folge der angesprochenen Repolitisierung sind. Man stelle sich vor, daß in einem Land, das eine starke christliche Tradition hat (immerhin waren > 80% der Bevölkerung in den alten Bundesländern getauft), Begriffe wie »katholisch«, »vatikanisch« oder »metaphysisch« offenbar erfolgreich dazu eingesetzt werden können, bestimmte kritische Stimmen zu diskreditieren. Man gewinnt gar den Eindruck, daß alte kulturkämpferische Positionen wieder auftauchen, so, wenn bewußt auf eine Reaktivierung des antikatholischen und antirömischen Affektes im Sinne einer ewiggestrigen Position gesetzt wird. So spricht Peter Sloterdjik von »neukatholischen« Positionen, die es im Interesse einer modernen aufgeklärten Gesellschaft abzuwehren gelte. Wohlgemerkt werden hier nicht spezifische katholische Botschaften kritisiert, sondern hier wird das Beharren auf traditionelle Auslegungen der Menschenwürde unter Berufung auf ihre religiösen Quellen als »fundamentalistisch« diffamiert. Der Begriff des Fundamentalismus aber, so unscharf er auch ist, impliziert eine Position, die nicht willens ist, grundlegende Vorentscheidungen der westlichen Zivilisation anzuerkennen, und die latent gewaltbereit ist. Als »fundamentalistisch« werden immerhin gemeinhin Regime wie die Mullahs im Iran, die Taliban in Afghanistan oder Terrorgruppen wie die in Libyen bezeichnet, und es ist ein Ärgernis, das derselbe Begriff zur Bezeichnung religiös bzw. transzendental inspirierter Positionen herangezogen wird.

Offensichtlich bedarf in unserer Gesellschaft insbesonders die christlich inspirierte Position einer besonderen Explikation. Die christliche Position bedeutet nichts anderes als eine vertiefte Begründung des Grundsatzes der Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Menschenwürde durch den Glauben an die Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie die Heilstat Gottes für den Menschen, die im Geschehen des Kreuzes und der Auferstehung ihre unüberbietbare Wirklichkeit gefunden hat. Man kann durchaus der Meinung zuneigen, daß die christliche Begründung zu einer nachhaltigeren Verfestigung des Gedankens der unantastbaren Menschenwürde führt, und der Verfasser bekennt sich zu dieser Überzeugung. Unabhängig davon ist die rein philosophische Begründung jedoch, wie aus der oben dargelegten Argumentation ersichtlich wird, auch ohne christliche Fundierung rational, widerspruchsfrei und allgemein anerkennungsfähig zu führen. Sie ist universalistisch in der besten Tradition der Aufklärung, d.h. sie beruht auf der Anerkennung der exklusiven Geltung rationaler Gründe ebenso wie auf der vorbehaltlosen Anerkennung aller Personen, gerade auch dann, wenn diese als Partner des Diskurses nicht vertreten sind. Es sind moderne christliche Positionen, die darauf hinweisen, daß das christliche Sittengesetz keine Sondermoral bedeutet, sondern die vertiefte Begründung der von der Aufklärung geforderten und begründeten alleinigen Geltung allgemein anerkennungsfähiger Gründe und Ansprüche.11 In letzter Zeit hat Jürgen Habermas seine transzendentalpragmatische Position in der Frage der humanen embryonalen Stammzellforschung exakt in dieser Weise konkretisiert und ist zu einer Ablehung dieser Technik gekommen.12

In der jetzigen Situation ist es von großer Bedeutung, daß die religiös bzw. transzendental inspirierten Positionen diese Ausgrenzungen nicht annehmen. Es wird vielmehr ihre Aufgabe sein, argumentativ durchzusetzen, daß ihre Positionen eben keine »Sondermoral« darstellen, sondern daß alle Mitglieder der Gesellschaft von der traditionellen Auslegung der Menschenwürde profitieren bzw. umgekehrt deutlich zu machen, welch verheerende Wirkung eine rationalistisch inspirierte Umdeutung für das Gemeinwohl haben wird. In diesem Zusammenhang müssen auch Parallelen und geistige Verwandtschaften entsprechender Positionen mit der Eugenik des frühen 20. Jahrhunderts sowie ihre Wirkungsgeschichte zur Sprache kommen. Ausdrücklich geht es nicht darum, mit der Keule des Nationalsozialismus-Verdachts mißliebige Positionen zu diskreditieren, sondern in Erinnerung zu rufen, daß die geistige Substanz des Nationalsozialismus durchaus ein Produkt bestimmter Traditionen des Rationalismus und Sozialdarwinismus war, die nicht ohne Grund nach dem 2.Weltkrieg geächtet worden sind und die in keiner Weise reaktiviert werden sollten.

Es sollte aber auch nicht unversucht bleiben, die Virulenz dieses hier aufgezeigten potentiellen, in Anfängen schon ausgebrochenen Konfilktes zu mindern, indem auch über die immanenten Probleme und Alternativen oder embryonalen Stammzellforschung diskutiert wird.

VI. Ist die humane embryonale Stammzellforschung alternativlos?

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat in der Begründung ihrer Kehrtwende von der initialen Ablehnung zur Befürwortung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen mit dem Stand und der Potentilität dieser Forschung argumentiert.13 Diese Aussage ist fundamental inkonsistent: entweder es liegen juristische und ethische Gründe vor, die die humane embryonale Stammzellforschung unmöglich machen, dann ändern sich diese Gründe auch nicht durch neue Forschungsergebnisse; oder diese Gründe waren gar nicht stichhaltig, dann hat die DFG möglicherweise lange Zeit wissenschaftspolitisch die falschen Weichen gestellt.

Die bisherige Betrachtung kann nur in die Erkenntnis münden, daß die humane embryonale Stammzellforschung ethisch nicht zulässig sein kann, und zwar unabhängig von ihren Erfolgsaussichten. Dennoch sollte die Frage gestellt werden, welches denn die naturwissenschaftlichen Grundlagen sind, auf denen die Notwendigkeit eines ethisch fragwürdigen Vorgehens gründen soll. In diesem Zusammenhang sind gleich mehrere Anfragen erforderlich:

- wie kann es sein, daß bereits humane embyronale Stammzellen zum Einsatz kommen sollen, obwohl das vorhergehende Tierexperiment der Re-Myelinisierung von Nervenzellen durch embryonale Stammzellen nur morphologisch und nicht funktionell durchgeführt wurde, somit die vorbereitenden Experimente nur unvollkommen durchgeführt sind?14

- ist es angesichts der großen Lücken sowohl in der theoretischen Kenntnis der zellulären Kommunikation als auch der begrenzten Kenntnisse aus praktisch-experimentellen Vorarbeiten vertretbar, bereits die klinische Erprobung der humanen embyronalen Stammzelltherapie zu initiieren? Weisen erste Erfahrungen mit Zellersatz bei Parkinson-Erkrankten nicht deutlich darauf hin, daß hier unkalkulierbare Risiken für die Betroffenen eingegangen werden?

- was ist der Grund dafür, daß humane embyronale Stammzellen gegenüber adulten Stammzellen favorisiert werden, wo doch nur mit ersteren das Problem der immunologischen Abstoßung verbunden sein wird?

- warum wird nicht offen gesagt, daß sich das Problem der Abstoßung nach jetzigem Wissen nur durch das therapeutische Klonen wird lösen lassen - der Herstellung eines Embryos durch Zellkerntransfer allein zum Zwecke der Zellspendung?

- was ist die Grundlage für die Behauptung der Einzigartigkeit von embryonalen Stammzellen, wo doch in rasantem Tempo nahezu täglich neue Erkenntnisse über die Potentialität von Stammzellen anfallen - bis hin zu der begründeten Infragestellung des Konzepts der Stammzelle als Entität?15

- warum wird behauptet, daß sich adulte Stammzellen nicht in ausreichender Zahl gewinnen bzw. nur mühsam anzüchten lassen, wo doch nach Meinung einiger Wissenschaftler nicht wenig dafür spricht, daß dies lediglich durch eine Forschungslücke und nicht durch qualitative Unterschiede bedingt sein könnte?

Diese Anfragen machen deutlich, daß der naturwissenschaftliche Boden, auf dem sich die humane embryonale Forschung bewegt, nicht sehr solide ist.16

Wie aber steht es mit den ökonomischen Argumenten? Gerät Deutschland ins Hintertreffen, wenn es bei dieser Forschung außen vor bleibt? Mit dem Argument, daß Deutschland sich nicht einer allgemeinen Entwicklung entziehen könne, taucht das alte Argument des Sachzwangs in neuer Form wieder auf. Es handelt sich um ein technokratisches Argument, mit dem die Aufklärung sich inhaltlich verabschiedet, zumindest insofern sie einmal der Auszug des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit sein wollte. Am Beispiel der Atomenergie wird exemplarisch deutlich, wie falsch dieses Argument ist. Selbstverständlich sind nationale Alleingänge möglich, können solche Alleingänge stilbildend werden, können vermeintlich unausweichlich und hochmodern dargestellte technologische Entwicklungen gefährlich, ja unverantwortlich sein. Auf der anderen Seite ist es viel schwerer, eine einmal eingeschlagene falsche Richtung zu korrigieren als sie von vorneherein gar nicht erst aufzunehmen. Aber selbst Vertreter der Wirtschaft haben jüngst klargestellt, daß sie den ökonomischen Nutzen der humanen embryonalen Stammzellforschung noch sehr zurückhaltend beurteilen.17

Wenn man sich diese Fragen vor Augen führt, wird deutlich, daß die Potentialität von Stammzellen in der Therapie schwerer Erkrankungen in aller Ruhe und ohne unnötigen Überschwang bearbeitet werden kann, und zwar ohne sich auf ethisch fragwürdige Forschungsstrategien einzulassen. In diesem Sinne kann man einem Leitartikel in der Zeitschrift »Nature« zustimmen, der betitelt war: »Ethics can boost science.«18

Die Erfahrung lehrt, daß jede neue Technologie ihre Erfolge haben, aber auch an ihre Grenzen stoßen wird, daß jede Innovation ein komplexer, durch viele Fort- und Rückschritte gekennzeichneter Prozeß ist. Forschung braucht Zeit. Wir verpassen nichts, wenn wir bestimmte Forschungsrichtungen aus ethischen Gründen auslassen. Es ist ganz und gar unwahrscheinlich, daß eine bestimmte Forschungsrichtung unentbehrlich ist.

Ausblick

Vieles spricht dafür, daß wir es bei der biotechnologischen Utopien wie der embryonalen Stammzellforschung, aber auch dem therapeutischen Klonen und der PID nach dem Zusammenbruch der politischen Ideologien des Kommunismus und des Nationalsozialismus mit Elementen innerhalb eines neuen Typs der Ideologiebildung zu tun haben, der Bioideologie der absoluten Gesundheit. Gegen diese den ärztlichen common sense eines nüchternen, forschrittsfreundlichen, aber ethisch unbestechlichen Pragmatismus zu bewahren, das erscheint zunehmend als Herausforderung der Gegenwart. Nach der ausgeführten Tragweite der hier dargestellten Probleme scheint es allerdings kaum möglich, diese Position auf Dauer erfolgreich zu verteidigen, ohne eine umfassende Neubesinnung über die Grundlagen des wissenschaftlichen und ärztlichen Tuns, mithin über die Grundlagen der Menschenwürde in Gang zu setzen.

1 J. Wisser, Einzigartig und komplett. Der Embryo aus biologischer Sicht. FAZ, 15.7.2001

2 R. Spaemann: Verantwortung für die Ungeborenen. In: R.Spaemann: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Klett-Cotta, 2001, S.367-382

3 R. Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied von »etwas« und »jemand«. Klett-Cotta, 1996;

ders.: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns. Klett-Cotta, 2001

4 Justizministerin H. Däubler-Gmelin, FAZ, 22.5.2001

5 A. Eser (Hrsg.) Biomedizin und Menschenrechte. Die Menschenrechtskonvention des Europarats zur Biomedizin. Dokumentation und Kommentare. 1999

6 V. von Weizsäcker: Euthanasie und Menschenversuche. In: Gesammelte Schriften, Band 7, suhrkamp Verlag, 1987, pp 91-134

7 A. Kuhlmann, Politik des Lebens, Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demoktratie. Alexander Fest Verlag, 2001

8 M. Spieker: Kirche und Abtreibung in Deutschland. Schöningh, 2001

9 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1959; 539

10 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Duncker & Humblot, Berlin, 1932

11 H. Peukert: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie. 1976. suhrkamp taschenbuch wissenschaft

12 M. Adrian, Stimmrecht, FAZ 30.6.2001. Der Embryo muß »unabhängig von irgendeiner ontologischen Überzeugung über den Anfang personalen Lebens« als jemand betrachtet werden, der in der Diskursgemein-schaft Stimmrecht hat. »Wir sollen ihn in Antizipation seiner Bestimmung wie eine zweite Person behandeln, die sich, wenn sie geboren würde, zu dieser Behandlung verhalten könnte«. Soll das ärztliche Ethos intakt bleiben, darf es Heilung nicht auf Kosten Dritter geben. Und weiter: »Nach dem Maßstab einer virtuellen Arzt-Patienten-Beziehung läßt sich die verbrauchende Embyronenforschung nicht rechtfertigen.« (Zitate J.Habermas)

13 »Es ist richtig, daß ich bisher den Stammzellen Erwachsener den Vorrang gegeben habe, aus naturwissenschaftlichen, juristischen und ethischen Erwägungen. Nur hat sich in den vergangenen Monaten in der Wissenschaft so viel getan, daß unsere Experten die bisherige Stellungnahme der DFG nicht mehr für aktuell hielten.« (Winnacker, FAZ, 5.5.2001, S. 43)

14 O. Brüstle et al., Embryonic stem cell-derived glial precursors: a source of myelinating transplants. Science 1999; 285: 650-651

15 H. Blau et al., The evolving concept of a stem cell: entity or function? Cell, 2001; 105: 829-841

16 Der Nobelpreisträger Günter Blobel hat jüngst darauf hingewiesen, daß es niemals ein wissenschaftlich eindeutiges Argument für die embryonale Stammzellforschung gegeben hat.

17 C. Geyer: Halbwissen. FAZ, 28.7.2001 So hat der Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Bernd Wegener, zu Protokoll gegeben: »So ist bis heute nirgendwo auch nur ansatzweise nachgewiesen, daß aus der Forschung mit embryonalen Stammzellen in zehn Jahren irgendein Heilmittel geschaffen werden kann.«

18 Ethics can boost science. Nature 2000; 408: 275. Ethical concerns »are also giving science an opportunity to stand back and think of alternative approaches, rather than putting all of its oocytes in one basket.«


Externe Links

Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Zeitschrift für medizinische Ethik